Wie soll ich den Spagat trainieren?

Cidalia ist eine Luftartistik Lehrerin. Kennengelernt habe ich sie in der Ausbildung zur Luftartistiklehrerin bei Aerialartistry. Sie ist sehr interessiert am menschlichen Körper und an modernen Bewegungsmethoden. Wir sehen uns immer mal wieder im Zirkus Grissini. Sie trainiert da jeden Donnerstag Luftartistik. Im Herbst kam sie auf mich zu und hat mir von einem spannenden Workshop erzählt, den sie besucht hat. Dabei ging es um Stretching. «Tamara wie siehst du das bezüglich Spagattraining?» fragte sie mich… «soll die Hüfte nun ausgedreht sein oder nicht?».

Das war der Auslöser für die Recherche zu diesem Blog. Uns war beiden klar, dass diese Frage doch endlich mal beantwortet werden sollte!

Cidalias Reise im Bereich des Spagat Stretchings begann mit einer klaren Regel: Beim Frontalspagat sollte die Hüfte geschlossen bleiben und die Beine parallel ausgerichtet sein.

Doch nun einmal mehr stellte diese Stretching Weiterbildung diese grundlegende Annahme in Frage und löste eine spannende Suche nach Antworten aus.

Schon früher hatte einer von Cidalias Physiotherapeuten empfohlen, das hintere Bein minimal auszudrehen – um ungefähr 5 Grad. Nun stiess Cidalia erneut im Workshop auf diese Argumentation: «Eine komplett parallele Ausrichtung der Hüfte im Spagat könnte suboptimal für das empfindliche Hüftgelenk sein!»

Getrieben von dieser Erkenntnis war klar, dass tiefer gegraben werden muss. Es war an der Zeit so viele Meinungen und Perspektiven wie möglich zu sammeln, um die biomechanischen Feinheiten des Spagats genauer zu untersuchen. Nur so kann dann entschieden werden wie der Spagat nun tatsächlich trainiert werden soll.

Denn eines ist klar: Der Spagat ist eine extreme Belastung für den Körper und birgt Risiken. Aber gibt es möglicherweise anatomisch freundlichere Methoden, die weniger schädlich für die Gelenke und Muskulatur sind? Diese Methoden zu finden und zu verstehen, war das Ziel der Recherchen von Cidalia.

Ein faszinierender Blick auf den Spagat als Kunst, Wissenschaft und Herausforderung – und ein Thema, das alle neugierig macht, die sich mit dem menschlichen Körper und seinen Grenzen befassen.

Verschiedene Meinungen!

Während drei Monaten hat Cidalia alle möglichen Menschen, welche im Bewegungsfeld tätig sind nach ihrer Meinung befragt.

Wie soll der Längsspagat trainiert werden? Wie soll dabei die Hüftstellung aussehen?

Alle befragten Personen wollten in diesem Bericht namentlich nicht erwähnt werden. Was ein deutliches Zeichen ist, wie heikel diese Frage ist!

Mehrere Tänzerinnen und auch ein Akrobat waren sich einig:

Die Fussdivergenz liegt beim Frontalspagat bei 0 Grad und die Hüfte soll geschlossen sein. Also beide Hüftknochen, Beine und Füsse sollen parallel zum Boden sein. Eine Ballett Lehrerin musste allerdings eingestehen, dass sie sich noch nie wirklich Gedanken darüber gemacht hat, ob ein Spagat «gesund» trainiert werden kann. Für sie war einfach klar, dass sie diesen so trainieren muss, wie man es ihr beigebracht hat. «Dabei sei es sicherlich wichtig den Rumpf gut zu stabilisieren.»

Mehrere Physiotherapeuten meinten:

Achtung… ein Spagat birgt Risiken! Die Fussdivergenz beim Frontalspagat soll bei 5-10 Grad liegen und die Hüfte soll geschlossen bleiben. Also beide Hüftknochen, Beine und Füsse sollen parallel zum Boden sein.

Cidalia hat in verschiedenen Centren nachgefragt nach Meinungen. im Fitnessbereich scheint man sich einig zu sein:

Die Hüfte soll gerade ausgerichtet sein! Also auch hier soll die Fussdivergenz beim Frontalspagat bei 0 Grad liegen und die Hüfte soll geschlossen sein. Um einen Spagat zu erreichen braucht es intensives und regelmässiges Training.

Cidalia hat gute Kontakte aufgrund einer Schulterverletzung auch zu Physiotherapeuten und Ostheopaten. Aus dem Gesundheitsbereich waren sich fast alle einig was die Fussdivergenz betrifft. Eine Ostheopatin meinte konkret zur Hüfte:

Die Fussdivergenz soll zwischen 5-10 Grad liegen und die Hüfte kann auch offen sein. Das heisst das hinere Bein kann auch leicht ausgedreht sein.

Im Bereich der Gymnastik, die älteste Sportform für die Frau in der Schweiz, wie auch im Yoga, dem moderneren Trend gilt die selbe Meinung:

Beim Frontalspagat soll die Fussdivergenz bei 0 Grad liegen und die Hüfte soll geschlossen sein!

Auch ein Karatelehrer war dieser Meinung…

Analyse

Nun was machen wir jetzt mit diesen Meinungen?

Nach dem neusten wissenschaftlichen Stand liegt eine entspannte, «normale Fussstellung» zwischen 5-10 Grad dezente Aussenrotation der Zehen. Also Fersen und Zehenballen berühren sich. Daher ist die Meinung der Personen aus dem Gesundheitsbereich gar nicht so verkehrt. Wiederum darf man nicht vergessen, dass der Spagat eine extreme Belastung ist und somit auf keinen Fall eine «entspannte Fussstellung» erfordert. Sobald beim hinteren Bein der Fuss leicht nach aussenrotiert wird, wird auch die Spannung im Knie spürbarer und so eine parallele Position der Hüftknochen so zu erreichen ist fast unmöglich.

Die Beweglichkeit in der Flexion (vorderes Bein) und Extension (hinteres Bein) erfolgt im Hüftgelenk, ohne dass es zu einer übermässigen Rotation kommt. Die Gelenke bleiben dabei in einer neutralen Position, was die Belastung minimiert.

  • Das Hüftgelenk arbeitet primär in Extension. Dabei bleibt der Femurkopf (Oberschenkelkopf) im Acetabulum (Hüftpfanne) stabil positioniert.
  • Der Iliopsoas und andere Flexoren (M. rectus femoris, sartorius) des hinteren Beins werden maximal gedehnt.
  • Die Spannung bleibt gleichmäßig auf die ventrale Kapsel und die iliofemoralen Bänder verteilt. Die Belastung auf das Labrum acetabulare bleibt gering.

    Knie:

    Da kein zusätzlicher Drehmoment durch Außen- oder Innenrotation des Beins entsteht, bleibt das Kniegelenk stabil. Das verhindert Belastungen auf die Bänder (z.B. Kreuz- oder Seitenbänder).

    Pro

    Contra

    Reduziert das Risiko von Fehlbelastungen in der Hüfte und im unteren Rücken.

    Erfordert mehr Flexibilität und Kraft in der reinen Hüftextension, da keine Rotation zur Kompensation genutzt wird.

    Schützt das Kniegelenk vor       Verdrehungen und Scherkräften.

     

    Unterstützt eine gleichmäßige Muskelarbeit der ischiocruralen Muskulatur (Hamstrings) und des M. iliopsoas.

     

Für den frontalen Spagat ist eine geschlossene Hüfte anatomisch vorzuziehen, um das Hüftgelenk in seiner natürlichen Bewegungsachse zu belassen und unnötige Belastungen auf Knie und Lendenwirbelsäule zu vermeiden.

Warum ich mich gegen die Ausführung mit offener Hüfte entschieden habe und was spricht den überhaupt gegen die Ausführung des Sagitalspagats mit offener Hüfte?

Das hintere Bein wird in Außenrotation (Lateralrotation) gedreht, während die Hüfte geöffnet wird, das bedeutet:

  • Neben der Extension wird das Hüftgelenk nun auch in Außenrotation beansprucht. Dies führt dazu, dass der Femurkopf im Acetabulum leicht nach vorne und unten gleitet.
  • Durch die Außenrotation reduziert sich die Spannung auf die ventrale Kapsel und die iliofemoralen Bänder. Gleichzeitig erhöht sich die Belastung auf die ischiokruralen Muskeln (v. a. der lange Kopf des Bizeps femoris).
  • Die Außenrotation vergrößert optisch den Spagatwinkel, da sie zusätzliche Beweglichkeit vortäuscht.
  • Die Außenrotation verlagert die Arbeit teilweise auf die Adduktoren und die tiefe Hüftmuskulatur (z. B. M. piriformis, M. obturator internus). Dadurch wird die Dehnung weniger spezifisch auf die Flexoren beschränkt.
  • Diese Ausrichtung kann ungleichmäßige Belastungen in der Hüfte hervorrufen, vor allem, wenn die Rotation nicht kontrolliert erfolgt.

Pro

Contra

Erleichtert das Erreichen der Spagatposition bei unzureichender Flexibilität in der Extension.

Die Kombination aus Extension und Außenrotation kann das Hüftgelenk belasten, insbesondere das Labrum (Labrumläsionen).

Reduziert die Spannung auf die ventrale Hüftkapsel und die Flexoren des hinteren Beins.

Die asymmetrische Belastung der Hüfte kann langfristig zu Kompensationsmustern führen.

 

Die Knie des hinteren Beins können durch die Rotation stärker beansprucht werden, da das Kniegelenk Außenrotation nicht gut kompensiert.

Fazit:

Hüfte geschlossen (Bein parallel): Diese Variante ist aus anatomischer Sicht physiologischer und schonender, da sie die Beweglichkeit in der natürlichen Bewegungsachse des Hüftgelenks fördert. Sie fordert jedoch mehr Flexibilität und Kraft in der Extension.

Hüfte geöffnet (Bein ausgedreht): Diese Variante kann kurzfristig helfen, die Position zu erleichtern, birgt aber langfristig ein höheres Risiko für Fehlbelastungen, insbesondere im Hüft- und Kniegelenk.

Für langfristige Gesundheit und anatomische Präzision sollte das hintere Bein so parallel wie möglich gehalten werden, auch wenn dies mehr Training erfordert.

Wie wichtig ist es, im Längsspagat mein Becken gerade zu halten?

Andrea Häberle ist Dozentin in der Ausbildung zur Luftartistik Lehrerin. Sie ist Physitherapeutin und Luftartistin.

Als AkrobatIn kennt man die Anweisung, man solle das Becken während des Längsspagats auf keinen Fall ausdrehen, nur zu gut. Dies gilt schon fast als verwerflich falsch, wird als Beweis für turnerische Inkompetenz herangeführt und auch die Folgen sollen gesundheitlich dermassen schädlich sein, dass man sich diese unsägliche Position eigentlich kaum erlauben darf. Aber wie steht es um diese verteufelte Ausweichbewegung wirklich?

Der Längsspagat bedingt Flexion (Beugung) im Hüftgelenk des gestreckten vorderen Beins, Extension (Streckung) im Hüftgelenk des gestreckten hinteren Beins und gleichzeitig Extension in der Lendenwirbelsäule. Nur das ausreichende Ausmass all dieser Fähigkeiten in Kombination wird zu einem schonenden Spagat führen. Sind eine oder mehrere dieser Bewegungsrichtungen endgradig eingeschränkt, kann man über eine Ausdrehung des Beckens optisch dennoch die Illusion einer Spagatposition erreichen. Dies ist eine sogenannte Ausweichbewegung. Aber wie funktioniert die eigentlich und welche Risiken birgt sie?

Da in der Artistik oft der visuelle Eindruck zählt und selten Punkte für turnerisch korrekte Ausführung verteilt werden, ist die Ausdrehung des Beckens für viele AkrobatInnen eine Möglichkeit, noch tiefer in den Spagat zu sinken, noch eindrücklichere Kontorsionseffekte zu erzielen und somit noch mehr Applaus zu ernten. Das Ausdrehen des Beckens im Spagat ist eine übliche Praxis auch unter professionellen ArtistInnen und daher ist es gerechtfertigt und notwendig, die damit verbundenen Risiken zu thematisieren.

Was sind die zugrundeliegenden anatomischen Anforderungen an den Längsspagat?
Vorab ist zu erwähnen, dass es nicht allen Menschen möglich ist, einen Spagat zu erreichen. Dies hat nicht zwingend etwas mit mangelndem Effort zu tun, sondern kann konstitutionelle, anatomische Gründe haben (Bsp. Hüftimpingement). Jetzt darauf einzugehen, würde aber den Rahmen sprengen. Wir gehen hier also von einem gesunden Hüftgelenk mit dem Potenzial zur Spagatposition aus. Allgemein bekannt ist der Bedarf an die Länge der ischiocruralen Muskulatur (Flexorengruppe am hinteren Oberschenkel) des vorderen Beines, welche oft limitierend wirkt. Beim hinteren Bein wird gleichzeitig Länge der Hüftbeuger (M.Iliopsoas und M.rectus femoris) verlangt. Ausserdem soll sich dabei die Lendenwirbelsäule in einer Streckposition befinden. Je nach Limitierung in einer Richtung oder Struktur, kann bzw. muss dies über die anderen beteiligten Strukturen kompensiert werden.

Häufig wird nur auf die Länge der Muskulatur geachtet und der Anspruch an die passiven Strukturen vergessen. Das Hüftgelenk ist von einem schräg, fast ringförmig angeordneten Bandapparat eingefasst. Bei Flexion wird dessen Verdrehung geöffnet und bei Extension verstärkt. Dies führt dazu, dass unser Hüftgelenk in Streckung zwar passiv vermehrt stabilisiert, aber dadurch auch weniger beweglich wird. Eine Aufdehnung dieser rigiden, kollagenen Strukturen ist aufwändig. Auch das Stretching der Hüftbeuger, welche durch gängige akrobatische Aktivitäten und Figuren, wie Inversions und Pikes, häufig einen hohen Tonus vorweisen, bedarf gewisser Überwindung. An die Extension der Lendenwirbelsäule trauen sich viele AkrobatInnen nicht mit derselben Intension, weil sie noch mehr mystifiziert und katastrophisiert wird als der Spagat (dazu vielleicht in einem anderen Beitrag mehr). Diese Faktoren führen dazu, dass im Training nur zu gerne auf die Kompensation über die Hüftflexion des vorderen Beines ausgewichen wird. Wie oben bereits erwähnt, ist hier die Länge der ischiocruralen Muskeln in der Regel der limitierende Faktor. Diese Muskelgruppe findet ihren Ursprung am Sitzbeinhöcker (Tuber ischiadicum) und ist dort breit verwachsen und allgemein eine massige, wohldurchblutete Struktur, welche viel Belastung aushält. Halte ich mein Becken gerade, wird der Spagat über diese Muskelgruppe gehalten, was als risikoarm zu bewerten ist. Es ist aber auch anstrengend und schränkt uns in der Regel bzgl. Bewegungsausmass ein. Um dies zu umgehen, öffne

ich also gerne das vordere Hüftgelenk (in Abduktion), löse die Muskelspannung und kann so tiefer in die Figur einsinken. Nun wandert aber als Folge die gesamte Belastung der Position auf die passiven Strukturen, sprich die Kapsel des Hüftgelenks. Aufgrund der gelockerten Bandverschraubung ebendieses in Flexion, ist es bereits vermindert geschützt. Wird nun das vordere Bein auch noch nach innen rotiert, wird der kugelförmige Kopf des Hüftgelenks zusätzlich von innen gegen die dorsalen (hinteren) Kapselstrukturen gedrückt. Dies birgt das Risiko einer Ruptur oder sonstigen Verletzung der dorsalen Gelenksstrukturen des Hüftgelenks.

Beim Spagat am Vertikaltuch mit jeweils einem Knoten an jedem Fuss wird das Risiko, aufgrund der Hebelwirkung und der instabilen Situation, zusätzlich erhöht. Eine Verletzung der passiven dorsalen Hüftgelenksstrukturen ist aufgrund der mässigen Durchblutung tendenziell langwierig und kann unter Umständen chronifizieren. Dies möchte man als ArtistIn, deren körperliche Leistungsfähigkeit existenzielle Relevanz hat, natürlich vermeiden.

Wie gehen wir nun mit diesem Risiko um?
Grundsätzliche Verbote, Schürung von Ängsten und Katastrophisierung waren noch nie ein sinnvoller Umgang bezüglich gesundheitlicher Themen. Ein erhöhtes Risiko ist multifaktoriell und kausal einzuordnen. Jeder Körper ist individuell und somit auch die Gefahr einer Verletzung.
Meine Empfehlung in mehreren Punkten:

  • Achte darauf, das Beweglichkeitstraining für den Spagat möglichst aufbauend, divers und variantenreich zu gestalten und wähle aktive und passive Mobilisationsübungen. Ziel ist es, alle beteiligten Strukturen zu erreichen. Kleiner Tipp: Baue auch neurodynamische Mobilisationen ein.

  • Versuche beim Training das Becken quer/gerade zu halten, gerade wenn deine Veranlagung/Konstitution der Hüften nicht ideal für den Spagat sind.

  • Fokussiere dich vermehrt auf die Öffnung und Aufdehnung der Hüftbeuger und der Extension des hinteren Beines und der LWS, um den Load der Position zu verteilen.

  • Trainiere regelmässig und auf deinem Niveau, vermeide Zeit- und Leistungsdruck und ergänze dein Training mit Übungen zur Körperwahrnehmung.

  • Trainiere mit viel Geduld, Respekt vor deinen körperlichen Grenzen, Achtsamkeit und Wohlwollen dir selbst gegenüber.

  • Hormonelle und emotionale Faktoren spielen eine zusätzliche Rolle in der Bewegungskontrolle und Beweglichkeit. Sei dir deiner Tagesform/aktuellen Phase bewusst und nimm Rücksicht darauf.

  • Darauf aufbauend darfst du für das Erreichen gewünschter Figuren dein Becken auch ausdrehen, solange dein Körper dir rückmeldet, diese Position kontrollieren zu können. Halte dabei aber eine aktive Grundspannung in beiden Beinen.

Links: 
Wenn du eine Beratung wünscht darfst du dich gerne auch direkt bei Andrea melden:
info@acromio.ch

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